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Deutscher Gleitschirm- und Drachenflugverband e.V.

DHV

Schutzwirkung von Gleitschirm-Gurtzeugprotektoren

Wo sich noch etwas verbessern lässt.

Analyse der Unfallmeldungen, Gespräche mit Verunfallten und Augenzeugen, Begutachtung von Unfallausrüstung, das waren und sind die klassischen Mittel der Unfallanalyse in unserem Freizeit-Flugsportbereich.
Seit einiger Zeit ist ein weiteres, sehr aussagekräftiges Werkzeug dazugekommen; die Analyse von Unfallvideos, wie sie in nicht geringen Mengen auf den Video-Onlineportalen von Youtube oder Myvideo zu finden sind. Ich habe schon viele Abende vor dem Rechner gesessen um für die Unfallanalyse wertvolles Filmmaterial zu sammeln. Hier hat man echte Unfälle vor sich. Es ist beängstigend, wie hier abgestürzt wird. Unglaublich bei welchen Wetterbedingungen geflogen wird (oder zumindest der Versuch dazu gemacht wird). Aber das was gezeigt wird, gibt die Realität wieder. Einklappgröße- und –form, Turbulenzen, Schirmverhalten, Pilotenreaktion usw.
Inzwischen gibt es auf der DHV-Website, im Sicherheitsbereich für Mitglieder, eine ständig wachsende Sammlung von Unfallvideos mit Analyse.
Hinsichtlich der Schutzwirkung von Gurtzeugprotektoren ist die entscheidende Frage: Wie erfolgt der Aufprall? Bisher waren wir ausschließlich auf die Aussagen der Verunfallten sowie möglicher Augenzeugen angewiesen. Aber die Erinnerung bei Unfallopfern ist oft blockiert (Amnesie) bei Augenzeugen ist die Aufregung groß und an manches kann man sich hinterher nicht mehr genau erinnern. Für die Fragen: wie erfolgt der Aufprall und an welchen Stellen ist gute Schutzwirkung besonders wichtig?, sind die Videos sehr wertvoll.

Die derzeitigen Protektoren sind für einen Aufprall im Bereich Gesäß/unterer Rücken optimiert. Grundlage für diese Schutzausrichtung war eine Untersuchung des DHV aus dem Jahr 1999. Damals wurden alle Piloten, die sich im Vorjahr, 1998, bei einem Gleitschirmunfall eine Wirbelverletzung zugezogen hatten nach der Art des Aufpralles befragt. 59% der Piloten gaben einen Sturz auf Rücken/Gesäß, 22% einen seitlichen und 19% einen Aufprall mit den Beinen voran an.
Eine entsprechende Auswertung der DHV-Unfalldatenbank (seit 1997 knapp 2500 Einträge) von 2003-2007 ergibt ein etwas differenzierteres Bild: Erstaufprall: Rücken: 22%, Gesäß: 27%, seitlich: 27%, frontal: 24%. Diese Verteilung ist verblüffend logisch. Denn die vier möglichen Aufprallvarianten, nach unten (Gesäß), nach hinten (Rücken), nach vorne (frontal) und seitlich, sind in annähernd gleichen Größenordnungen vertreten.

Aufprall Gesäß/ in Rückenlage
Das Schutzziel, das bei der Formulierung der Bauvorschriften für Protektoren im Jahr 1999 im Vordergrund gestanden hat, war eine gute Dämpfung der Energie bei einem axialen Aufprall (senkrecht zur Wirbelsäule) aus geringer Höhe z.B. kurz nach dem Start oder vor der Landung. Deshalb sind die derzeitigen Protektoren meist im Bereich des Gesäßes am stärksten und verjüngen sich nach oben.
In der Praxis zeigt sich, dass die Optimierung des Schutzes in diesen Bereichen einen relativ breiten Teil der tatsächlichen „Impacts“ abdeckt.

Video 1: Beim Versuch einer Punktlandung stallt der Pilot den Schirm in 5-7 m Höhe. Der Absturz erfolgt fast senkrecht, mit einer leichten Rückwärtsbewegung des Schirmes. Der harte Aufprall erfolgt auf dem Bereich des Protektors, der die beste Schutzwirkung bietet.

                                     

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Video 2: Nach einem seitlichen Einklapper beim Start dreht der Schirm abrupt in Einklapprichtung. Der Pilot vertwistet sich und prallt mit dem Rücken auf den Boden.

                                                                       

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Video 3: Der Pilot wird beim Rückwärtsaufziehen von einer Böe erfasst und 3-4 m in die Luft gerissen. Der Aufprall erfolgt leicht seitlich direkt auf dem Protektor.

                                       
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Fazit:
Bei Sturz auf das Gesäß/ den unteren Rücken, ist der Verletzungsschutz durch die modernen Protektoren gut. Dies wird auch immer wieder von Piloten in ihren Unfallmeldungen betont. Dass es trotz  DHV-geprüftem Rückenschutz relativ häufig zu Unfällen mit Wirbelverletzungen kommt, spricht nicht gegen die Schutzwirkung der Protektoren. Es ist einfach eine Frage der zu verarbeitenden Aufprallenergie und da liegt das Wünschenswerte weit über dem, was momentan den Stand der Technik markiert. Vom Standpunkt des optimalen Verletzungsschutzes wäre eine Verbesserung der Wirkung von Rückenprotektoren natürlich erstrebenswert. Fernziel könnte es sein, die bei Stalls und Sackflügen auftretenden max. ca. 8 m/s als den Wert zu nehmen, bei dem ein Aufschlag auf den Protektor nicht zu schwerwiegenden Verletzungen führen darf.

Trotzdem bleibt festzuhalten; ob ein Sturz auf den Hintern/Rücken mit einer stabilen Lendenwirbelfraktur oder einer Zertrümmerung der Wirbelkörper mit Schädigung des Rückenmarkkanals endet, entscheidet oft der vorhandene oder nicht vorhandene Protektor. Im Jahr 2007 gab es zwei Unfälle von deutschen Piloten, die eine Querschnittlähmung zur Folge hatten (Ölidöniz, TR, Burgberg/Kallmünz, DE); beide stürzten auf das Gesäß/den Rücken, sie hatten keinen Rückenprotektor in ihren Gurtzeugen.

Es kommt jedoch in der Praxis auch zum Aufprall in stärkerer Rückenlage (Video 2), wo viele Protektoren bereits eine deutlich geringere Schutzwirkung haben als im Bereich Gesäß/ unterer Rücken. Zwar verteilt sich hier die Aufprallenergie auf eine größere Fläche, trotzdem wäre eine Optimierung der Schutzwirkung bis in den Schulterbereich sinnvoll. Der DHV hat in seinem Entwurf zur Änderung der LTF (Gütesiegel 2008) bereits einen Dreipunkttest für Gurtzeugprotektoren vorgeschlagen. Axial, in Verlängerung der Wirbelsäule, sowie an zwei weiteren Punkten, jeweils 25° in Richtung Sitzbrettkante und 25° in Richtung Rücken.

 

 

  
Bei diesem Schaumprotektor ist deutlich zu sehen, dass der Bereich Gesäß/unterer Rücken durch die
größte Protektordicke am besten geschützt ist.
Beispiel eines Protektors, der auch noch gut schützt, wenn der Aufprall in stärkerer  Rückenlage erfolgt, weil Protektorwirkung bis auf Höhe der Schultern.

Seitlicher Aufprall
Bei vielen Unfällen ist eine seitliche Komponente beim Aufprall zu beobachten. Aber im Gegensatz zum senkrechten Aufprall ist hier nicht nur eine Bewegungsrichtung im Spiel. Dadurch ergibt sich eine Vielzahl von möglichen Aufprallvarianten, weil die Lage des Pilotenkörpers beim Aufprall völlig dem Zufall überlassen ist.
Am häufigsten erfolgt die Bodenberührung dabei aus einer Drehbewegung, der Pilot in mehr oder weniger hoher Schräglage.

Video 4: Aufprall aus einer Steilkurve. Die Bodenberührung des Piloten erfolgt zuerst seitlich.

                                       

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Video 5: Der Schirm befindet sich hier in einer schnellen Kurve nach rechts. Der Aufprall des Piloten hat eine stark seitliche Komponente.

                                      
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Video 6: Spiralsturz nach einer Extremsituation im Sicherheitstraining. Der Pilot wird mit hoher Energie um die Kappe geschleudert, durch die starken Fliehkräfte fast auf gleicher Höhe mit der Eintrittskante. Er befindet sich dabei mit dem Rücken zur Drehrichtung und hat annähernd die gleiche Schräglage wie die Kappe. Der Aufprall des Piloten auf dem Wasser erfolgt aus der rückwärtigen Schleuderbewegung in sehr starker Seitenlage.

                                      
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Video 7: Hier erfolgt der Aufprall des Piloten in vollständiger Seitenlage. Zum Glück im Tiefeschnee.

                                      
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Abhängig vom Aufprallwinkel bieten die Rückenprotektoren beim seitlichen Aufprall noch partiellen Schutz (Video 5) bzw. sie sind praktisch wirkungslos (Video 7). 

Höhe und Form des Rückenprotektors haben, zumindest in der Theorie, einen erheblichen Einfluss auf die Schutzwirkung bei seitlichem Aufprall. Hier ist besonders das Problem des „Ausweichens“ des Protektors entgegen der Richtung der eingeleiteten Kraft beim seitlichen Aufprall zu nennen. Ab einem bestimmten Aufprallwinkel ist das Moment, das den Protektor ausweichen lässt so groß, dass dieser teilweise oder vollständig weggedrückt werden kann.
Es wäre dringend zu erforschen, wie sich Rückenprotektoren beim Aufprall mit seitlicher Komponente verhalten. Wie wirken sich Bauhöhe und Bauform aus, besonders auf das Problem des „Ausweichens“.

In der Theorie ist eine abgerundete, nach außen gewölbte Form des Protektors günstiger bei einem seitlichen Aufprall, als gerade nach unten geschnittene oder sich nach unten verjüngende Formen. Möglicherweise kann durch eine Änderung der Form des Rückenprotektors schon ein ganz brauchbarer Seitenschutz erreicht werden.

 

 


Offene Fragen: Was begünstigt ein "Ausweichen" des Protektors bei einem seitlichen Aufprall? Welche Protektorform ist bei einem Aufprall mit seitlicher Komponente günstig, welche ist ungünstig?

 

Ein zusätzlicher Protektortest für seitlichen Aufprall würde in vielfältiger Weise Sinn machen:
· Es gäbe eine Aussage darüber, ob ein Protektor eine seitliche Schutzfunktion hat oder nicht.
· Das Phänomen des „Ausweichens“ des Protektor nach oben könnte besser erforscht werden und die Erkenntnisse in künftige Konstruktionen einfließen.
· Wenn etwas getestet wird, möchte man ein gutes Testergebnis. Dies spornt die Konstrukteure/ Hersteller zu guten Lösungen an.

Frontaler Aufprall
Wenig ist mit der derzeitigen Protektortechnologie gegen diese Art des Aufpralls auszurichten. Mit dem Vorschlag zur Verschärfung der Einklapptests in den LTF (Gütesiegel 2008) hat der DHV den Ansatz verfolgt, in den unteren Klassen auch bei aggressiven Einklappformen (Stichwort flächentiefer Einklapper) das Vorschießen der Kappe auf 45° zu begrenzen. Das würde helfen, auch dieses Unfallszenario zu entschärfen, weil die Aufprallenergie umso größer wird, je weiter die Kappe nach vorne geschossen ist.

Der frontale Aufprall des Piloten im freien Fall beim Hinterherpendeln der vorschießenden Schirmkappe ist ein echtes „Worst Case Szenario“. Es muss vom Piloten, wenn immer möglich, unbedingt verhindert werden. Bei einem bodennahen seitlichen Einklapper darf man den Schirm nicht so weit vorschießen lassen, dass es zu einem freien Fall in die entlasteten Leinen kommt. Frühzeitig gegenbremsen, lieber einen Strömungsabriss mit Sturz auf den (protektorgeschützten) Rücken in Kauf nehmen, als ungebremst frontal in den Hang zu knallen.

Bleibt das Vorschießen der Kappe moderat oder erfolgt die Bodenberührung in einem günstigen Moment (wenn der Pilot wieder vollständig unter den Schirm gependelt ist), kann meist ein Aufprall in folgender Abfolge beobachtet werden: Nach vorne gestreckte Beine des Piloten werden durch den Aufprall gestaucht, oft nach oben geschleudert, dann erfolgt der Aufprall mit der Vorderkante des Sitzbretts.

Video 8: Nach einem moderaten seitlichen Einklapper war der Schirm mäßig vorgeschossen und hatte Richtung Hang gedreht. Der Aufprall erfolgt zuerst mit den angewinkelten Beinen und dann mit dem Vorderteil der Sitzfläche des Gurtzeugs.

                                      
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Video 9: Landung aus einem Pendler. Der Pilot schlägt hart mit dem Vorderteil des Sitzbretts auf.

                                       
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Dieses Szenario wird auch immer wieder in den Unfallmeldungen berichtet und nicht selten mit dem Zusatz:“ Leider reicht mein Protektor nicht bis zur Vorderkante des Sitzbretts, weil sich in diesem Bereich der Rettungsschirm befindet. Demzufolge bin ich praktisch ungebremst auf den Boden geprallt“.

Bei einem Aufprall in dieser Position werden die Verletzungen an der Wirbelsäule meist durch den sog. „Klappmessereffekt“ verursacht, weil der Oberkörper des Piloten abrupt nach vorne/unten geschleudert wird. Die Stärke dieser Schleuderbewegung ließe sich durch eine gute Dämpfung im Bereich unterhalb des vorderen Sitzbrettteiles abschwächen und damit die Verletzungsgefahr verringern. Bei weitem nicht alle modernen Gurtzeuge haben Protektorschutz an dieser Stelle. Häufig befindet sich hier nämlich der Rettungsgerätecontainer.

Auch diese Form des Aufpralls könnte durch einen zusätzlichen Protektortest simuliert und das Dämpfungsvermögen der Protektoren untersucht werden.


Zusammenfassung

Vieles lässt sich noch verbessern im Bereich Aufprallschutz. An erster Stelle sollten die etwa 30% seitliche Impacts nicht weiter ignoriert werden.  Damit die Gleitschirmszene diesbezüglich „in die Gänge kommt“ (es sind auch die Piloten, die mangels Nachfrage die Entwicklung von Seitenprotektoren uninteressant machen), sollten baldmöglichst Testverfahren entwickelt werden, die genauere Aussagen über die Schutzeigenschaften der Protektoren ermöglich.


Karl Slezak
Sicherheitsreferent