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Deutscher Gleitschirm- und Drachenflugverband e.V.

DHV

Am 06.07.08 kam es im Fluggebiet Stalpe (Sillian, Osttirol) zu einem tödlichen Gleitschirmunfall. Der Pilot war mit einem Verhänger im Spiralsturz in den Hang geprallt.

Pilot: 51-jähriger Deutscher, Inhaber einer A-Lizenz seit 2000.

Gerät: Gleitschirm: Gradient Golden 1/28 Baujahr/Stückprüfung 2004, Nachprüfungen erfolgten 2006 und zuletzt im April 2008. Gurtzeug: AVA-Sport Sprinter, Musterprüfung 2003. Rettungsgerät: Sup Air M, Stückprüfung 2003.

Ablauf des Unfalls
Der Pilot war Teilnehmer eines Thermikkurses einer Flugschule und beim Unfallflug unter Fluglehrerbetreuung, sowohl am Start-, wie auch am Landeplatz. Er hatte am Vortag bereits einige Flüge im Fluggelände durchgeführt. Am Unfalltag war es der erste Flug, Start gegen 9.15 Uhr. In ganz schwache Aufwindbedingung konnte er sich eine Zeit lang mit einem Nullschieber am Hang halten. Er wurde einmal von der Fluglehrerin am Landeplatz über Funk aufgefordert, etwas mehr Hangabstand einzuhalten. Beim Wegflug vom Hang leitete der Pilot selbständig und ohne Fluglehreranweisung oder Funkbetreuung das Manöver Rollen ein. Die Fluglehrerin am Landeplatz hatte sich inzwischen einem weiteren in der Luft befindlichen Piloten zugewandt. Sie sah „aus den Augenwinkeln“, dass der Schirm aus einem moderaten Rollen auf der linken Seite einklappte. Anschließend öffnete der Klapper zum größten Teil wieder, ein Teil des Außenflügels hatte sich jedoch in den Leinen verhängt. Der Schirm setzte seine durch den Einklapper begonnene Drehbewegung fort. Er geriet, erst mäßig schnell, dann rasch beschleunigend in einen schnellen Spiralsturz. Nach mehreren Zeugenaussagen hat die Fluglehrerin sehr früh, noch bevor der Schirm im vollen Spiralsturz war, mehrmals die Aufforderung „Rettung, Rettung“ über Funk an den Piloten gegeben. Diese Funkanweisung wurde während des gesamten Absturzes wiederholt. Der Pilot zeigte jedoch keine sichtbaren Reaktionen. Der Absturz erfolgte aus einer Höhe von 200-300 m GND. Der letzte Teil des Absturzes konnte von den Augenzeugen nicht mehr beobachtet werden, da Pilot und Gleitschirm hinter einer Geländekante verschwunden waren.
Der Fluglehrer am Startplatz startete sofort mit seinem Gleitschirm, landete beim Verunglückten am Hang ein und leistete erste Hilfe. Wenig später traf der Rettungshubschrauber ein, der den Schwerstverletzen ins Krankenhaus flog, wo er wenig später starb.

Untersuchung
Am 22.7.08 fand eine eingehende Untersuchung der Unfallausrüstung in den Räumen der Bundesanstalt für Verkehr, der für Luftfahrtunfälle zuständigen österreichischen Behörde, in Wien statt. Leiter der Untersuchung war Ing.Martin Veit, aus fachlichen Gründen wurde der DHV-Sicherheitsreferent Karl Slezak hinzugezogen. 
Der Gleitschirm war unbeschädigt. Musterprüfplakette und Nachprüfstempel waren ordnungsgemäß angebracht. Es erfolgte eine Kontrolle der Einstellung der Steuerleinen. Diese waren an der vom Hersteller angebrachten Markierung korrekt eingestellt. Aus dem vom Nachprüfbetrieb zur Verfügung gestellten Protokoll der letzten Nachprüfung im April 2008 geht hervor, dass beide Steuerleinen um 18 mm zu kurz eingestellt waren und anlässlich der Nachprüfung auf das korrekte Maß nachjustiert worden sind. Weitere Abweichungen von den Soll-Maßen der Trimmung sind bei der Nachprüfung nicht festgestellt worden. Die Bundesanstalt für Verkehr wird dennoch eine Überprüfung des Unfallschirmes durch einen Nachprüfbetrieb durchführen lassen.
Die Untersuchung konzentrierte sich auf die Fragestellung, warum der Pilot sein Rettungsgerät nicht rechtzeitig ausgelöst hatte. Dieses war, ausgelöst aus dem Außencontainer und teilweise freigesetzt aus dem geöffneten Innencontainer, mit gestreckten Fangleinen ca.1,5 m neben dem Piloten aufgefunden worden. Die Verschlaufung der Rettungsgeräte-Verbindungsleine mit der Gabelleine am Gurtzeug war locker, die Klettabdeckungen der Gabelleine am Gurtzeug verschlossen, beides Indizien dafür, dass der Rettungsschirm keinen Öffnungsstoß erfahren hat.
Aus den Spuren am Gurtzeug lässt sich schließen, dass der Aufprall mit einer starken seitlichen Komponente nach links erfolgt ist. Am gesamten Rettungsgerätemechanismus gab es keine Anzeichen dafür, dass der Außencontainer durch die Wucht des Aufpralls geöffnet und auf diese Weise der Rettungsschirm freigesetzt worden war. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Auslösung des Rettungsschirms vom Piloten erfolgte.
Am Rettungsschirm konnten keine Auffälligkeiten festgestellt werden. Es gab keine Hinweise auf einen schlechten Packzustand, wie etwa korrodierte Ösen am Innencontainer, sichtbar alte Packgummis oder die typischen „harten“ Falten eines lange nicht neu gepackten Rettungsschirmes.

Bei der Untersuchung von Gurtzeug und Rettungsschirm fiel auf, dass die Verbindungsleine Gurtzeug-Rettungsschirm nicht frei vom Gurtzeug zum Rettungsschirm führte sondern einmal sowohl durch den Fußbeschleuniger als auch durch den Beinstrecker durchgeschlauft war.
Das Gurtzeug ist mit einem Fußbeschleuniger und einem Beinstrecker ausgestattet, der Außencontainer des Rettungsgerätes befindet sich unter der Sitzfläche, mit Öffnung nach unten (Bottomcontainer).

Bild 1 (links): Das Unfallgurtzeug. Es ist mit einem Beschleuniger (rotes Seil) und einem Beinstrecker ausgerüstet.

Bei Bottomcontainern besteht die Gefahr, dass der Beschleuniger und/oder der Beinstrecker durch den Fahrtwind direkt vor die Containeröffnung geweht wird. Siehe auch die Sicherheitshinweise in diesem Artikel: https://www.dhv.de/web/Vorsicht_beim_Nachr_.4106.0.html
Deshalb müssen Gurtzeuge mit Bottomcontainer für die Musterprüfung beim DHV eine Rückholvorrichtung am Beschleuniger haben, die diesen außerhalb der Containeröffnung hält. Hat das Gurtzeug noch einen zusätzlichen Beinstrecker, muss sich dieser bei einer Rettungsgeräteauslösung automatisch abtrennen.


Bei dem Unfallgurtzeug gibt es weder eine Rückholvorrichtung am Beschleuniger, noch eine Trennvorrichtung am Beinstrecker. Die Länge des (in die Tragegurte eingehängten) Beschleuniger und des Beinstreckers ist so dimensioniert, dass beide bis direkt vor die Containeröffnung reichen.

Bild 3 (links): Sowohl der Beschleuniger, als auch der Beinstrecker sind so dimensioniert, dass sie, z.B. durch den Fahrtwind nach hinten geweht, bis weit unter die Containeröffnung reichen.

Eine weitere Auffälligkeit war der Zustand der Einschlaufung des Rettungsgerätegriffes mit dem Loop am Innencontainer. Diese Einschlaufung war extrem fest zusammengezogen. Sie konnte nur mit großer Mühe geöffnet werden. Anschließende Versuche haben gezeigt, dass allein das Gewicht des aus dem Außencontainer fallenden Rettungsgerätes und auch ruckartiges Bewegen des Griffes am frei hängenden Innencontainer ein so festes Zusammenziehen der Verschlaufung nicht verursachen konnte. Eine derart festgezogene Verschlaufung kann nur mit der Einwirkung großer Kraft erklärt werden.

Ein Wiedereinbau des Rettungsgerätes in das Gurtzeug mit Auslöseprobe ergab keine Auffälligkeiten. Die Auslösung aus dem Außencontainer erfolgte problemlos.

Eine Probeauslösung mit (simuliert) vor die Außencontaineröffnung gewehtem Beschleuniger und Beinstrecker ergab, dass der Rettungsschirm direkt nach unten, zwischen den Beschleuniger und den Beinstrecker fällt. Ein Wegschleudern des Innencontainers in den freien Luftraum ist dadurch unmöglich.

Zusammenfassung
Eine Erklärung, warum der Pilot den Rettungsschirm nicht rechtzeitig ausgelöst hat, konnte nicht zweifelsfrei gefunden werden. Aufgrund des  Zustandes der vorgefunden Ausrüstung weißt jedoch einiges auf folgendes Unfallszenario hin:
· Durch die hohe Fluggeschwindigkeit während des Spiralsturzes werden Beschleuniger und Beinstrecker nach hinten, unter die Öffnung des Außencontainers geweht.
· Dem Piloten gelingt die Auslösung des Rettungsgerätes aus dem Außencontainer. Der Innencontainer fällt direkt nach unten, die Verbindungsleine Rettungsgerätegriff-Innencontainer verläuft damit (siehe Bild 2) zwischen dem Beschleuniger/Beinstrecker.
· Ein Wegschleudern des Innencontainers in den freien Luftraum ist nicht möglich.
· Der Pilot bemerkt, dass ein Wegschleudern des Innencontainers nicht funktioniert und versucht mit kraftvollem Zug, den Innencontainer aus der Verschlingung mit den Seilen/Gurten des Beschleunigers/Beinstreckers zu befreien.
· Der Pilot lässt, wahrscheinlich kurz vor dem Aufschlag, den Griff des Rettungsschirmes los. Dieser fällt nach unten, bis sich der Innencontainer öffnet, die darin befindlichen Fangleinen strecken und der Rettungsschirm beginnt, sich vom Innencontainer zu lösen. Für einen weiteren Öffnungsvorgang reicht die Höhe nicht.

Sicherheitshinweise
· Bei Gurtzeugen mit Bottomcontainer muss sichergestellt sein, dass der Beschleuniger im entlasteten Zustand nicht bis unter die Containeröffnung geweht werden kann. Das ist im Normalfall nur dadurch gewährleistet, wenn das Beschleunigungssystem mit einem Rückholsystem (Gummizug) ausgestattet ist.
· Nachgerüstete, also nicht serienmäßige Beinstrecker bei Gurtzeugen mit Bottomcontainer sind potentiell lebensgefährlich. Denn aufgrund ihrer Länge werden sie, im entlasteten Zustand, vom Fahrtwind direkt unter die Außencontaineröffnung geweht. Unbedenklich sind nur serienmäßige Beinstrecker, die bei einer Rettungsgeräteauslösung automatisch (einseitig) abgetrennt werden.


Gmund, 24.7.08

Karl Slezak
DHV-Sicherheitsreferent