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Deutscher Gleitschirm- und Drachenflugverband e.V.

DHV

Sicher am Windenseil fliegen

Text:
Peter Willig
Grafiken: Roberto Stein

Bevor sich ein Pilot* das erste Mal mit seinem Gleitschirm in ein Windenseil einhängt, erhält er in der Regel den Hinweis, dass der Gleitschirm "träger" wird, oder dass man "intensiver" steuern muss. Trotz dieser Information sind Piloten häufig von dem Flug- und Steuerverhalten während des Schlepps überrascht. Einige Piloten fühlen sich beim Windenschlepp sogar unsicher. Ihr Gefühl signalisiert ihnen, dass sie das Fliegen am Seil nicht ausreichend beherrschen. Man kann eine Sache nur dann beherrschen, wenn man sie verstanden hat. Dieser Text soll Klärung bringen. Ein einfaches Modell soll das Geschehen anschaulich und für Jedermann verständlich machen.

1. Aussage 1

In der Regel ist ein Gleitschirm ein sich selbst stabilisierendes Fluggerät.
Erklärung:

Fliegt man eine Kurve oder nickt der Schirm, stabilisiert sich der Schirm von selbst, wenn der Pilot eine neutrale Sitzposition einnimmt und nicht mehr steuernd eingreift. Dieses Verhalten ist mit dem unten beschriebenem Versuch vergleichbar: Eine Kugel wird an einem beliebigen Punkt auf die Innenseite einer Schale gelegt und losgelassen. Der Mittelpunkt der Kugel schwingt und kommt am tiefsten Punkt zur Ruhe. Fachbegriff: stabiles Gleichgewicht

 

Die Kugel in der Schale kommt ebenso wie der Pilot am Gleitschirm nach dem Pendeln am tiefsten Punkt zur Ruhe.

2. Aussage 2

Wird der Gleitschirm von einer Winde geschleppt, wird das oben genannte Verhalten im wahrsten Sinne auf den Kopf gestellt. Aus dem Gleitschirm wird ein Fluggerät mit sich selbst verstärkenden Flugeigenschaften.
Erklärung:
Fliegt man nur eine leichte Kurve, wird diese Kurve durch die wirkende Seilkraft von selbst verstärkt. Ändert man sein Steuerverhalten nicht, wird die Kurve immer enger und steiler. Dies geschieht bis zu einem Punkt P (n), (point of no return) bei dem der Lock - Out beginnt. Nach diesem Punkt kann der Schirm nicht mehr zurück gesteuert werden. Ein Absturz ist die Konsequenz!
Wie ist das Verhalten zu erklären?
Fliegt der Pilot am Windenseil z.B. eine leichte Rechtskurve, wirkt durch das Windenseil auf die rechten Tragegurte eine größere Kraft (Die Wirkung der Kraft ist vergleichbar mit der Körpersteuerung zur Kurvenseite). Dadurch wird die Kurve noch steiler. Hierdurch wirkt nun eine nochmals größere Kraft. usw. Das System verstärkt sich von selbst.
Dieses Verhalten ist mit dem folgenden Modell vergleichbar:
Die Schale wird auf den Kopf gestellt. Die Kugel liegt zunächst im Scheitel S. Sie spürt keine seitlichen Kräfte. Die kleinste Störung führt dazu, dass die Kugel nach unten rollt und schließlich in P(n) abstürzt.
Fachbegriff: labiles Gleichgewicht


Zwei Faktoren bestimmen die Stärke des zwangsweise provozierten Kurvenflugs. Die Größe und die Richtung der Seilkraft.

1. Je größer der Winkel zwischen Vorseil und Längsachse der Kappe ist, desto stärker wird die Kappe in eine Kurve gezwungen.

Gibt es bereits den oben genannten Winkel gilt zusätzlich:

2. Je größer die Seilkraft ist, desto stärker wird die Kappe in eine Kurve gezwungen.

3. Welche Auswirkung haben diese Phänomene auf das Fliegen und das Steuern am Schleppseil ?

Wir unterscheiden drei Varianten:

3.1. Wir fliegen genau gegen den Wind.

Da der Winkel zwischen Seil und Längsachse der Kappe Null Grad ist, gibt es keine kurvensteuernden Seilkräfte. Der Pilot fliegt genau auf die Winde zu. Es bedarf keiner oder nur sehr geringer Steuerimpulse, um den Schirm auf Kurs zu halten.

Vergleich mit dem Modell:
"Wir fliegen genau im Scheitel des labilen Gleichgewichts."
Dieser Fall ist schön, aber eher selten.

3.2. Wir haben Seitenwind

Hierbei müssen wir zwei Fälle unterscheiden:

1. Schleppgelände, die keine Abdrift zulassen
Das sind die Schleppgelände, bei denen durch eine Abdrift (Überfliegen von Gelände seitlich der Schleppstrecke) Personen oder Sachen gefährdet werden oder Eigentumsrechte verletzt werden.

2. Schleppgelände, die eine Abdrift zulassen
Das sind die Schleppgelände, bei denen es die oben genannten Einschränkungen nicht gibt.

3.2.1. Schleppgelände, die keine seitliche Abdrift zulassen.

Wenn das Schleppgelände keine seitliche Abdrift zuläßt, müssen wir trotz Seitenwindes auf die Winde zufliegen. Dabei will sich die Kappe in Windrichtung drehen. Der Winkel zwischen Richtung des Schleppseils und Längsachse der Kappe wird größer. Die Seilkraft provoziert somit einen Kurvenflug.

Im Modell betrachtet:
Die Kugel befindet sich im beliebigen Punkt (P i) und muss dort liegen bleiben.
Die Kugel will durch eine nach unten gerichtete Kraft  hinunterrollen. Diese Kraft ist vergleichbar mit der kurvensteuernden Seilkraft (F k), die eine Kurve erzwingt. Eine Gegenkraft muss die Kugel im Punkt halten. Diese Gegenkraft ist vergleichbar mit den steuernden Kräften des Piloten (F p). Beide Kräfte müssen gleich groß und entgegengesetzt gerichtet sein, um die Kugel in der Position bzw. den Gleitschirm  auf Kurs zu halten. Diese Art am Seil zu fliegen, bezeichnet man auch als "Schlepp mit Vorhaltewinkel".


Was bedeutet das für das Steuerverhalten des Piloten?

Der Pilot muss während des gesamten Schlepps die kurvensteuernden Seilkräfte durch aktives Steuern kompensieren. Diese Kompensation geschieht in der Regel primär durch Gewichtsverlagerung. Hierbei drücken Oberschenkel und Becken auf einer Seite das Sitzbrett nach unten. Auf der anderen Seite wird das Becken angehoben, um das Sitzbrett zu entlasten. Die Richtungskorrektur wird zusätzlich durch Ziehen an einer Steuerleine unterstützt.

Eine weitere Erschwernis kommt hinzu:

Da die Windgeschwindigkeit und die Windrichtung in der Regel nicht konstant sind, ändert sich auch ständig die Größe und die Richtung der Seilkraft. Das bedeutet aber, dass sich die Größe der erzwungenen Kurve ebenfalls fortlaufend ändern will. Auf diese Änderung muss der Pilot ständig und durch unterschiedlich starke Steuerbewegungen reagieren. Reagiert er nicht oder zu spät, nähert er sich immer weiter dem Lock - Out.

3.2.2. Schleppgelände, die eine seitliche Abdrift zulassen.

Empfehlungen, die sich unmittelbar aus dem Modell ergeben:
Liegt die Kugel genau im Scheitel, ist die waagerechte Kraft Null. Liegt die Kugel nahe am Scheitel, ist die fast waagerechte Kraft klein.
Übertragung des Modells auf das Fliegen am Seil:
Das Modell zeigt uns, dass wir den Schirm so steuern müssen, dass die kurvensteuernden Seilkräfte möglichst klein sind. Wir müssen versuchen, möglichst "im Scheitel des labilen Gleichgewichts" zu fliegen.
Wie schaffen wir das ?
Der Seitenwind formt das Seil zu einem Bogen. Das Vorseil, das unmittelbar vor uns hängt, gibt relativ genau die Richtung der Seilkraft an, die auf uns wirkt. Fliegen wir also genau in die Richtung des Vorseils, gibt es keine Kräfte, die uns in eine Kurve zwingen.
Fliegen wir ständig in Richtung des Vorseils, werden wir durch den Wind versetzt. Die Krümmung des Seilbogens nimmt allmählich ab. Sie nimmt solange ab, bis das Seil letztlich gerade auf die Winde zeigt. Nun fliegen wir direkt gegen den Wind und auf die Winde zu. Das oben Beschriebene kann man in einer einfachen Empfehlung zusammenfassen: „Flieg immer in Richtung des Vorseils!" Diese Methode wendet man sowohl bei Seitenwind als auch bei thermischen Windbedingungen an. Thermik kann die Windrichtung mehrfach ändern. Dann fliegt man eventuell auf einer mehrfach gekrümmten Flugbahn.

4. Zusammenfassung:

Hängt der Gleitschirm am Schleppseil, mutiert er zu einem Fluggerät mit sich selbst verstärkenden Flugeigenschaften.

Lässt das Gelände keine Abdrift zu, fliegt man mit einem Vorhaltewinkel am Seil. Die kurvensteuernden Seilkräfte müssen ständig durch Steuerbewegungen des Piloten kompensiert werden. Je größer der Vorhaltewinkel ist, desto näher fliegt man in der Nähe des Lock - Outs.

Lässt das Gelände eine Abdrift zu, fliegt man in Richtung des Vorseils. Hierbei gibt es keine kurvenverstärkende Seilkraft. Da man "im Scheitel des labilen Gleichgewichts" fliegt, sind nur kleine Steuerimpulse notwendig. Die "Entfernung" zum Lock - Out ist maximal. Dieser Schlepp wird als entspannt empfunden.

5. Fazit:

Wenn das Schleppgelände es zulässt, ist es sicherer und entspannter, nicht mit einem Vorhaltewinkel sondern in Richtung des Vorseils zu fliegen.

Ich würde mich freuen, wenn dieser Text ein wenig dazu beitragen könnte, dass ihr entspannter und mit mehr Spaß und Freude am Seil fliegt.

Take care !

* Selbstverständlich sind auch immer die Pilotinnen angesprochen. Zum Zwecke der Vereinfachung ist nur die männliche Form genannt.