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Deutscher Gleitschirm- und Drachenflugverband e.V.

DHV

Modellierung und Simulation des Gleitschirms

Ein Beitrag von Horst Altmann

Immer öfter findet man in den einschlägigen Fach-Zeitschriften fundierte Beiträge zur Aerodynamik am Gleitschirm, wobei aber die Verbindung des aerodynamischen Ergebnisses zur Flugpraxis meist nicht in der gleichen Tiefe behandelt wird. Dabei sollte es doch möglich sein aus der Kombination der aerodynamischen Reaktionen mit einem mechanischen Modell des Gleitschirms praxisrelevante Aussagen zur Polaren, zum optimalen Kurvenfliegen oder zu dynamischen Manövern wie Steilspirale oder SAT zu treffen. Dieser Artikel versucht dies.

Als Werkzeug für all diese Untersuchungen dient ein Simulationsprogramm, das sich hauptsächlich auf eine vollständige aerodynamische sowie mechanische Modellierung des Gleitschirms stützt. Obwohl hier als aerodynamische Methode das relativ einfache und damit schnelle Potentialverfahren gewählt wird (siehe auch "Der Leistungsoptimierte Gleitschirm" in DHV-Info 143 und "Schnellflug und Steuern mit dem Gleitschirm" in DHV-Info 145) fällt für die Modellerstellung ein hoher Rechenaufwand (ca. 2 Tage Rechenzeit!) an, da Daten für eine Vielzahl von Brems-Konfigurationen erzeugt werden müssen. Hinzu kommt dann noch, daß für jede Flügelgeometrie die Beiwerte (Kräfte und Momente) für einen praktikablen Bereich in Anstell- und Schiebewinkel sowie in den Drehraten (Nicken, Rollen Gieren) zu berechnen und tabellarisch abzulegen sind. Nur so läßt sich unterschiedlich enges Kreisen oder ein Manöver wie Steilspirale/SAT simulieren.

Als Besonderheit enthält das Aerodynamik-Modell zusätzlich eine Querkraft in der Schirmmitte infolge Schrägstellen der zentralen Zellen bei Reinlegen des Piloten ins Gurtzeug (oft auch "Gewichtskraftsteuern" genannt). Dies ist bekanntlich eine aerodynamisch effektive Methode zur Kurvenunterstützung.
Die mechanische Modellierung unterteilt das System in zwei gekoppelte Körper: Schirm inklusive Leinen und Pilot. Dies ist vereinfachend zusammen mit den wichtigsten Kräften und Bezugspunkten in der Grafik dargestellt. Bei Gleitschirmen darf wie bei anderen leichten, voluminösen Fluggeräten (z.B. Luftschiffe, Ballon) die im Flügel eingeschlossene Luft nicht vernachlässigt werden. Das Gewicht der eingeschlossenen Luft eliminiert sich zwar selbst mit der eigenen Verdrängungskraft (Archimedischer Auftrieb, engl. buoyancy); bei dynamischen Manövern aber tritt die eingeschlossene Luft mit all ihren Trägheiten auf. Eine Abschätzung zeigt, daß in einem typischen Flügel ca. 7,5 m3 Luft enthalten sind. Dies entspricht maximal rund 9,2 kg Masse, deutlich mehr als das Schirmmaterial schwer ist!

Leben in die Modellierung kommt nun mit Aufstellen der dynamischen Bewegungsgleichungen (Impuls- und Drallsatz) für Schirm und Pilot. Dazu kommen dann noch die folgenden 4 Steuereingaben: Herabziehen der linken und rechten Hinterkante, Reinlegen und Pilotenverschiebung (= Beschleunigen).

Mit der so geschaffenen mathematischen Formulierung können nun zeitliche Abläufe bei Vorgabe der Steuergrößen (Simulation) oder bei konstanten Steuergrößen die zugehören stationären Bewegungsgrößen bestimmt (Trimmzustände) werden. Zur konkreten Umsetzung wird ein typischer moderner DHV2-Flügel geometrisch modelliert und daraus das aerodynamische und mechanische Modell entwickelt.

Sinkpolare
Die Sinkpolare verbindet in ihrer üblichen Darstellung die horizontale Fluggeschwindigkeit Vh [km/h] des Fluggeräts mit der dabei auftretenden Sinkgeschwindigkeit Vs [m/s] und enthält somit wichtige Informationen zu Gleitleistung, geringsten Sinken, maximale und minimale Geschwindigkeiten usw. Praktische Bedeutung bekommt die Polare u. a. als Input in moderne Variometer, die abhängig vom aktuellen Wind und Luftmassensinken die optimale Sollfahrt bestimmen und vorgeben.
Die Polare enthält stationäre (getrimmte) Punkte des Längsfluges. Dabei werden die Punkte links von hands-off (oft als Trimmpunkt bezeichnet) durch symmetrisches Herunterziehen der Hinterkante und die Punkte rechts von hands-off durch Verschiebung des Piloten-Einhängepunktes nach vorne erflogen. Diese gemischt aerodynamische/mechanische Steuerung bei unseren Fluggeräten ist schon ziemlich einzigartig.
Das Diagramm zeigt das Ergebnis der Trimmrechnungen, der hands-off Punkt ist farblich hervorgehoben. Die rein theoretisch bestimmte Polare ist natürlich keine Sensation, kennt man doch Beispiel-Polaren mit exakten Meßwerten. Interessant wird die Methode dann doch, weil nunmehr aus dem Modell auch aerodynamische Größen bekannt sind, die sich meßtechnisch nur schwer erfassen lassen. So ergibt sich für den hier untersuchten Schirm ein Anstellwinkelbereich von 15° (voll gebremst) über 7° (hands off) bis runter auf 2° (voll beschleunigt). Die Methode erlaubt auch Variationen des Leinen-Riggings, so daß für eine gewünschte hands off–Geschwindigkeit oder Maximalgeschwindigkeit die entsprechende Lage des Einhängepunkts abgeschätzt werden kann.


Sink-Minimierter Kreisflug
Kreisfliegen ist eigentlich gar nicht so trivial, denn man kann dabei mit drei Steuergrößen spielen: Innenbremse, Außenbremse und Reinlegen. Wenn es bei schwacher Thermik ums Obenbleiben geht sind dabei diese 3 Größen so zu koordinieren, daß sich für einen gewünschten Thermikradius die kleinste Sinkgeschwindigkeit ergibt.
Für diese Aufgabe sind ebenfalls Trimm-Rechnungen geeignet, bei denen mit Variation der drei genannten Steuergrößen schließlich die Sinkgeschwindigkeit als Funktion des zugeordneten Kreisradius dargestellt wird. Bei der genauen Analyse wird gleich klar, daß Reinlegen grundsätzlich die resultierende Sinkgeschwindigkeit verbessert. Dies ist anschaulich plausibel, da das mit dem Reinlegen verbundene Schrägstellen des Schirmzentrums aerodynamisch sehr effektiv ist - es wird im Gegensatz zum Bremsen keine schädliche Strömungsablösung erzeugt.
Die weitere Analyse nimmt daher unterstützendes Reinlegen an und untersucht den Einfluß des Brems-Niveaus (= Mittelwert des Bremsausschlages links/rechts) auf die Sinkgeschwindigkeit. Ein bestimmter Kurvenradius wird dann natürlich ausgehend von dem mittleren Niveau durch zusätzliche differentielle Ausschläge (z.B. rechts mehr und links weniger bremsen) realisiert.

Das Resultat ist in dem Diagramm zusammengefaßt: Die farbigen Einzelkurven gelten für das angegebene Steuerniveau. Es zeigt sich, daß für kleine Radien das Niveau der Bremsen eher hoch gewählt werden soll. Mit zunehmenden Radius sind abnehmende Niveaus besser bis hin zu dem Niveau, bei dem der Schirm sein geringstes Sinken erreicht. Die weiter oben bereits angegebene Polare macht deutlich, daß das geringste Sinken bei leichtem Bremsen (ca. 10%) erzielt wird.
Insgesamt ernüchternd ist dennoch an dem theoretischen Ergebnis, daß sich mit optimaler Steuerung nur einige cm/s herausholen lassen. Das ist sicherlich wenig verglichen mit dem sauberen Zentrieren eines Aufwinds bzw. schnelles Reagieren bei Wechsel der Steigwerte.

Steilspirale und SAT
In der Flugpraxis wird die Steilspirale durch asymmetrisches Bremsen meist mit überlagertem Reinlegen eingeleitet. Bei Übergang in die Steilspirale mit starkem Vornicken der Kappe kann man in den SAT überleiten, indem man das Reinlegen z.B. durch Abstützen am gegenüberliegendem Tragegurt verstärkt. Es hat sich gezeigt, daß sich dieses Manöver für die Simulation, die ja die Steuereingaben "blind" zeitlich definiert vorgeben muß, gut eignet. Die Simulation einer reinen Steilspirale würde situationsbedingtes Steuern erfordern (Pilot fungiert als Regler), was aber derzeit nicht im Simulationsprogramm eingearbeitet ist. Zudem hat der Schirm im SAT aufgrund des größeren Abstands zur Rotationsachse "schönere" Anströmverhältnisse, bei denen das aerodynamische Modell realitätsnähere Resultate erwarten lässt. Was bringt nun die Simulationsrechnung?

Als erstes positives Ergebnis ist festzustellen, daß mit einer Steuervorgabe aus kräftigem Reinlegen und moderater asymmetrischer Bremse der Übergang von Kurve in die Steilspirale und schließlich in den SAT gelingt, vgl. Grafik. Die Steuerung ist so vorgegeben, daß der Pilot in eine neutrale Position zurückgeht und nur noch schwaches asymmetrisches Bremsen verbleibt. Das System verbleibt im SAT.
Der Nutzen der Simulationsmethode liegt nun darin, daß alle Bewegungsgrößen (z.B. Anstellwinkel, Drehrate, Bahnkoordinaten) analysiert werden können, was das allgemeine Verständnis des Manövers unterstützt: Explizit wird das Einleiten der Spirale mit fast sprungartigem Wechseln des Bewegungscharakters deutlich: Während der Schirm vornickt (bis ca. 80°) wandert die Drehachse der Bewegung von weit außerhalb des Systems nahe an die Kappe heran. Während des SATs liegt der Drehpunkt dann zwischen Pilot und Schirm, relativ nahe am Piloten. Dieses Simulationsergebnis deckt sich mit den Erkenntnissen aus Videoanalysen realer Flugmanöver. Die jeweils horizontal nach außen gerichteten, vertikal leicht versetzten Zentrifugalkräfte an Pilot und Schirm (mit eingeschlossener, mitrotierender Luft!) stabilisieren schließlich das System in dieser steilen Lage.
Im stationären SAT führt der Schirm gemäß dem Simulationsergebnis einen schraubenförmig nach unten führenden Flug bei ca. 7° Anstellwinkel durch. Die Rotationsgeschwindigkeit um die vertikale Schraubenachse beträgt etwa 250°/sek, die Sinkgeschwindigkeit ca. 11m/s. Aufgrund des starken Schirm-Rollens verläuft die Strömung quer über den Flügel (Schiebewinkel an der Nase ca. 40°); die Rechnung liefert eine Umfangsgeschwindigkeit des Piloten von ca. 50 km/h mit rund 3g Belastung.
Wesentlich für das vertikale Kräftegleichgewicht (Kompensation der Gewichtskraft) ist die charakteristische Schrägstellung der Schirm-Querachse gegen den Horizont. Die Grafik (Bild-Frequenz 0,5 Sek.) zeigt schön, daß die rechte Flügelhäfte, über die die Spirale eingeleitet wird, zunächst abtaucht und mit Übergang in den SAT wieder höher kommt. Anschließend bleibt die rechte Hälfte fortwährend höher. Eine detaillierte Betrachtung der Kräfte am Schirm zeigt, daß in diesem Zustand die Querkraft in Richtung des "hohen Ohres" die dominierende aerodynamische Kraftkomponente ist. Diese schräg nach oben gerichtete Kraft erfüllt 2 Funktionen: Die vertikale Komponente trägt hauptsächlich das Gewicht, die horizontale gerichtete Umfangs-Komponente hält das System in der Rotation. Diese Beobachtung erklärt auch die übliche Methode des Ausleitens. Durch Rüberlehnen nach außen und/oder asymmetrisches Bremsen entgegen der Drehrichtung wird die Querkraft abgebaut und so die Drehbewegung bis zum Ausleiten gehemmt. Das "Rauslegen" ist hier besonders effizient, da durch die dabei entstehende Schrägstellung der Kappenmitte direkt die Querkraft abgebaut wird. Im Übrigen zeigt sich bei Steilspirale und SAT mit dem fast horizontal liegenden System, daß Rein/Rauslegen nichts mit Gewichtskraftsteuern zu tun hat, da nun die vertikal nach unten wirkende Gewichtskraft die Systemdynamik nicht beeinflussen kann.

Eine anschauliche Animation zu diesem Manöver steht auf www.dasa-sg-otn.de/Haengegleiten/download.html zur Verfügung.
Fazit: Die Simulation des Gleitschirms auf Basis detaillierter Modellierung erlaubt eine realitätsnahe Untersuchung von stationären und dynamischen Flugmanövern. Es lassen sich die im realen Flug nur schwer messbaren Größen, z. B. Anstellwinkel und Drehraten, identifizieren, womit ein wertvoller Beitrag zum Verständnis der Vorgänge und Ableitung von Designprinzipien erreicht werden kann.