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Deutscher Gleitschirm- und Drachenflugverband e.V.

DHV
26.07.2008

Protektortest-Problem

Der DHV hatte vor 10 Jahren auf die zahlreich aufgetretenen Rückenverletzungen beim Gleitschirmfliegen reagiert und einen Prüfstandard entwickelt, der von GS-Gurtzeugen ein Mindestmaß an Dämpfungsfähigkeit beim Aufprall forderte.
Er hatte dafür eine spezielle Prüfanlage gebaut. Aufgrund der mit ihr gewonnenen Erkenntnisse konnte der DHV dem Luftfahrtbundesamt (LBA) Mindestforderungen für Protektoren vorschlagen. Diese wurden in die Lufttüchtigkeitsforderungen (LTF) eingefügt. Sie bezogen sich also ausschließlich auf Messung mit einer Prüfapparatur, wie der DHV sie verwendet. Es gab keine Veranlassung, andere Prüfaufbauten zu berücksichtigen; es gab keine anderen. Nur wenige Eckwerte wurden festgeschrieben: 20 g dürfen nicht überschritten werden, nach 1,5 m freiem Fall. Die eigentlich relevante Aufschlaggeschwindigkeit war nicht festgelegt. Bedingt durch verschiedene Reibungskräfte kann die praktisch erreichbare Aufschlaggeschwindigkeit nie so hoch sein wie der theoretische Freifallwert. Maximale Abweichungen wurden durch die LTF jedoch nicht festgelegt. Bei Prüfnormen für Fluggeräte hat der DHV stets darauf gedrungen, dass die Prüfnormen spätestens alle 5 Jahre an den Stand der Technik angepasst werden. Dass dies bei der Protektornorm nicht geschah, blieb 10 Jahre lang kein Problem. Der durch die DHV-Prüfanlage gesetzte Standard hat sich in der Praxis gut bewährt. Da es nur die eine DHV-Prüfstelle gab, waren die Prüfbedingungen für alle Hersteller gleich.
Mit der Erweiterung der LBA-Anerkennung einer Fallschirm-Prüfstelle EAPR für den Gleitschirmbereich hat sich die Situation geändert. Die EAPR baute eine eigene Prüfanlage für Protektoren, die deutliche höhere G-Werte misst als die DHV-Anlage. Es ist allgemein bekannt, dass die Ausführung eines Prüfapparats maßgebliche Auswirkungen auf die Prüfergebnisse hat. Man hätte wesentlich präzisere Vorgaben machen müssen, um die Übereinstimmung aller wesentlichen Parameter bei verschiedenen Anlagen sicherzustellen.
Der DHV beriet mit der EAPR und dem Herstellerverband PMA am "Runden Tisch" über das weitere Vorgehen. Man einigte sich darauf, den Physiker Hans-Peter Zepf zu beauftragen, einen Lösungsvorschlag zu erarbeiten. Er ist Experte für Sportprotektoren, leitet die Europäische Normenkommission für Flugsporthelme, war vor 15 Jahren DHV-Technikvorstand. Am Runden Tisch wurde ins Auge gefasst, das Problem einfach mit Hilfe eines Umrechnungsfaktors zu lösen, welcher die Unterschiede beider Anlagen ausgleicht. Dem widersprachen dann die Experten. Zunächst müssen die wesentlichen Prüfparameter beider Anlagen übereinstimmen, erst dann können noch verbleibende Unterschiede per Faktor abgeglichen werden. Vergleichstests müssen mit einem Standard-Prüfkörper ermittelt werden, der seine Eigenschaften nicht verändert. Hans-Peter Zepf hat dann genaue Anforderungen für die Prüfanlagen vorgeschlagen. Der EAPR wurde Gelegenheit gegeben, ihre Ideen dazu einzubringen. Der DHV erteilte vorerst keine Musterprüfungsbescheinigung mehr.
Die EAPR tat dies schon. Bei den Piloten entstand der Eindruck, wenn die EAPR Anlage strengere Anforderungen stellt, als die DHV-Anlage, dann müssen die dort mustergeprüften Protektoren sehr viel besser sein. Der DHV hat aber bei der von ihm durchgeführten Nachprüfung eines Protektors mit EAPR Musterprüfbestätigung festgestellt, dass dieser die DHV-Prüfung auf der alten unveränderten Anlage bei weitem nicht bestanden hätte. Daraufhin wurde bekannt, dass die EAPR einen Bonusfaktor gewährt hatte. Die Art und Weise, wie dieser Faktor zustande kam, ist unakzeptabel und wissenschaftlich nicht begründbar.
Unabhängig davon hatte die DHV-Kommission sich am 7. Juni 08 mit dem Thema Protektor befasst und beschlossen: Das Technikreferat wird beauftragt, bis zur nächsten Kommissionssitzung Vorschläge für eine Verbesserung der Protektorprüfung zu erarbeiten und insbesondere zu klären, ob ein Testverfahren sinnvoll ist, welches auch seitliche Aufschläge testen kann. Denn bisher wird nur der senkrechte Aufprall untersucht, der laut DHV-Unfallforschung in etwa 50 % der Fälle auftritt. Schutzmöglichkeiten auch für seitliche Aufprallsituationen, die in etwa 30% der Fälle auftreten, sollen künftig erforscht werden.
Die DHV-Technik suchte daraufhin die anerkanntesten und erfahrensten Spezialisten auf dem Gebiet der Protektorprüfung. AD Engineering wurde eingeschaltet. Es handelt sich dabei um Europas größten Prüfanlagenbauer für notifizierte Prüfinstitute für persönliche Schutzausrüstung, mit besonderem Schwerpunkt Helme. Hersteller und Prüflabore für Helme beziehen ihre Prüfanlagen bei ihm, um sicherzustellen, dass sie zu gleichen Ergebnissen kommen. Zudem führte eine Sondermaschinenbau-Firma mit Kernkompetenz in der Luft- und Raumfahrttechnik Untersuchungen an der DHV-Prüfanlage durch, um fundierte Vorschläge für eine Neukonstruktion erarbeiten zu können. Unter anderem wurde auch die Verkantungsproblematik untersucht, die bei Prüfanlagen theoretisch auftreten kann, wenn der Protektor den Schlag nicht zentrisch aufnimmt. Die Kugellager der DHV-Anlage haben sich dabei bestens bewährt: Wesentliche Ergebnisverfälschungen traten bei einseitiger Belastung nicht auf.
Die Tatsache, dass die Kugellager auf dem Mess-Schrieb während dem Fallweg ein Signalrauschen zeigen, hatte die Frage aufgeworfen, ob der freie Fall erheblich durch Reibung gebremst wird. Hans-Peter Zepf hatte die Fallzeit der DHV-Anlage überprüft. Ergebnis: „Es wurden bei sehr guter Reproduzierbarkeit Fallzeiten ermittelt, die im Mittel um 0,8% länger, jedoch nie um mehr als 2% länger waren als die theoretische Freifallzeit von 0,5530 Sekunden. Inzwischen brachten Teilnehmer im Internetforum ihr Ingenieurswissen ein, es schossen aber auch wilde Spekulationen ins Kraut. Der DHV-Forumsadministrator erhielt den Auftrag, gegen Behauptungen, die nicht belegt waren, vorzugehen. Eine sehr undankbare Aufgabe. Er ist kein Mess-Techniker und konnte nur auf Grundlage seines jeweiligen Kenntnisstandes argumentieren.
Am 17. Juli konnte die DHV-Technik den Rat von Hans-Peter Zepf umsetzen, eine Sensorik anzuschaffen, die auf neuestem technischem Stand ist und deren Einstellung für jedes andere Prüflabor sehr einfach nachvollziehbar macht. Spezialisten der Firma AD Engineering lieferten ihre Sensorik, die bei Helmprüfungen eingesetzt wird und installierten sie parallel zur bestehenden DHV-Mess-Sensorik. Bei über 100 Fallversuchen wurde die DHV-Sensorik auf Herz und Nieren überprüft. Die Reproduzierbarkeit der DHV-Messergebnisse war sehr gut. Die Ergebnisse zeigen, dass die aufgenommenen G-Werte der DHV-Anlage direkt vergleichbar mit den Werten der neuen Sensorik sind. Der vom DHV angewendete Filter ließ sich elektronisch nachbilden. Damit sind die Filterparameter, die in der Vergangenheit verwendet worden sind, jetzt genau definiert und der Fachwelt zugänglich. Es wird vermutet, dass unter anderem diese Parameter zu den Unterschieden zwischen den Anlagen beitragen.
Zusätzlich ermöglichte die neue AD Engineering Sensorik eine extrem genaue Messung der Aufprallgeschwindigkeit per Photozelle. Sie misst nicht, wie von Hans-Peter Zepf durchgeführt, die Fallzeit auf 1,5 m Fallstrecke, sondern die Geschwindigkeit der letzten 5 cm Strecke vor dem Aufprall. Mit dieser Methode wurde bei der DHV-Anlage eine Aufprallgeschwindigkeit von ca. 4,7 m/s bei einer Fallhöhe von 1,5 m ermittelt. Sie liegt unter dem theoretische Wert 5,42 m/s. Da der theoretische Wert bei Prüfanlagen nicht erreicht wird, schreibt zum Beispiel die Helm-Prüfnorm einen Mindestwert von 5,15 m/s vor. Hans-Peter Zepf hatte vorgeschlagen, künftig statt die Fallhöhe zum Maß zu nehmen, eine Aufprallgeschwindigkeit von 5 m/s festzulegen.
 
Was bedeutet dies alles für die Piloten?
Wenn die DHV-Technik mit der Aufprallgeschwindigkeit von ca. 4,7 m/s einen Wert von nicht höher als 20 g gemessen hat, wurde der Protektor zugelassen. Wäre mit höherer Aufprallgeschwindigkeit gemessen worden, hätte das Messergebnis mehr g gezeigt. Wie viel genau, lässt sich nicht ohne weiteres feststellen. Dem DHV stehen die geprüften Protektoren nicht im Originalzustand (vor Prüfungsbelastung und ohne Alterungseffekte) zur Verfügung. Versuche mit einer von 4,7 m/s auf 5,15 m/s erhöhten Aufprallgeschwindigkeit deuten daraufhin, dass Protektoren statt 20 g etwa 24 g (oder je nach Protektorbeschaffenheit mehr) zeigen, ein linearer Zusammenhang besteht nicht.
Bei all diesen Überlegungen sollte man aber die Flugpraxis nicht aus den Augen verlieren. Die Faktoren, die in der Flugpraxis eine Rolle spielen, überwiegen bei weitem die nun bei Messungen angestrebte 5 %-Toleranz. Ob der Pilot den Aufprall mit den Füssen abfängt, seitlich aufkommt, mit höherer oder geringerer Aufprallgeschwindigkeit, bringt G-Wert-Unterschiede die wahrscheinlich bei mehr als 100% liegen.
Jedenfalls hält es der DHV für erforderlich, dass das LBA für die Musterprüfungs-Messungen statt der Fallhöhe die Aufprallgeschwindigkeit einschließlich der erlaubten Toleranzen festlegt. Auch alle anderen Prüfparameter müssen genau definiert werden. Dann ist sichergestellt, dass verschiedene Prüfanlagen zu gleichen Ergebnissen kommen. Außerdem lässt der DHV eine neue Prüfanlage für Protektoren bauen. Sie soll in wenigen Wochen zur Verfügung stehen und neue Forschungsmöglichkeiten für seitliche Aufprallwinkel eröffnen. Dies bringt uns dem eigentlichen Ziel näher: Verbesserung der Schutzausrüstung für Piloten.
Siehe auch Beitrag von DHV-Sicherheitsreferent Karl Slezak "Protektoren, was lässt sich verbessern?"