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Deutscher Gleitschirm- und Drachenflugverband e.V.

DHV

Neue Erkenntnisse zur Retterauslösung

Mehrmals haben wir schon eine Annäherung an die äußerst komplexe Thematik der „Retterauslösung in Drehbewegungen“ gewagt. Uns Stück für Stück vorangetastet, um dem Phänomen des „Retterfraßes“, des Einfangens des noch nicht geöffneten Rettungsschirms durch die rotierende Gleitschirmkappe, auf die Spur zu kommen. Siehe zwei Berichte:
 https://www.dhv.de/web/Retterausloesung_in.4696.0.html
https://www.dhv.de/web/Analyse_Retter_in_G.5530.0.html

Diese extrem gefährliche Situation hat in den letzten Jahren zu mehreren Todesfällen geführt, viele Piloten konnten mit Glück und Coolness die verhängte Rettung doch noch aus der Gleitschirmkappe befreien, wie dieser Kanadier (aus paraglidingforum.com): „Ich fing mir einen Frontklapper ein, gefolgt von einem „Hufeisen“ mit mehrfachem Twist der Tragegurte und Spiralsturz. Ich musste meine Rettung auslösen, die aber sofort von der Gleitschirmkappe gefressen wurde. Über etwa 2000 m oder 3 Minuten versuchte ich verzweifelt den Retter zu lösen, es gelang aber nicht. Dann, ca. 200 m GND, blieb mir nur noch eine Möglichkeit: Mit meinem Kappmesser schnitt ich die Stammleinen einer Seite komplett ab und dies hat schließlich die Retterkappe befreit. Das war nicht einfach wegen der hohen G-Belastung“.

Letzter Stand unserer Erkenntnisse war:
1. Schmeiß den Retter nicht ins Zentrum der Drehung, weil hier die Fliehkraft entgegen der Wurfrichtung wirkt.
2. Wirf nach Möglichkeit Richtung Kurvenaußenseite, weil die Fliehkraft den Wurf unterstützt.
3. Wirf so kräftig wie möglich.

Irgendwann sprach ich mit dem Dipl.Physiker (und Mitglied des DHV-Fluglehrer-Ausbildungsteams) Christoph Weber über die Problematik. Christoph, der auch für Turnpoint Rettungsgeräte designed, war sofort sehr daran interessiert, das Thema von der wissenschaftlichen Seite anzugehen. Er stellte den Kontakt zu zwei Doktoranten her (Mathematik und Physik), die auch bald eine sehr eingehende Studie ausgearbeitet hatten. (Download gesamtes Dokument hier)
Die wesentlichen Aussagen der Studie sind:
1. Das Ganze ist ungeheuer kompliziert.
2. Entscheidend ist, bei welcher Wurfrichtung der Rettungsschirm die längste Zeit hat, um die Fangleinen zu strecken und sich (zumindest teilweise)zu füllen, bevor ihn die drehende Gleitschirmkappe einholt und „frisst“.

Untersuchte Wurfrichtungen
Es werden drei Wurfrichtungen betrachtet und analysiert: Nach außen, nach innen und nach unten. Die beiden Wissenschaftler haben jeweils die Zeit berechnet, die dem Retter bleibt um sich soweit zu öffnen, dass er nicht mehr „gefressen“ werden kann.
Dabei gab es ein zunächst wenig überraschendes Ergebnis: Die Wurfrichtung nach außen/unten, also jeweils möglichst weit weg von der Gleitschirmkappe (diese befindet sich innen/oben), ist ideal, hier hat der Retter die längste Zeit um zu öffnen. Aber; in Drehbewegungen befindet sich der Pilot in Schräglage. Wer nach links abspiralt, ist in einer Schräglage bei der links die tiefe und rechts die hohe Seite ist. Wird nun der rechts befindliche Retter waagrecht nach rechts weggeschleudert, fliegt er zwar nach außen (was vorteilhaft ist), aber auch nach oben, was sich als nachteilig erweist. Umgekehrt in einer Rechtsspirale. Der waagrecht nach rechts ausgelöste Retter wird nach unten (rechts ist in diesem Fall die tiefe Seite der Pilotenschräglage) geschleudert (Vorteil), aber auch nach innen (Nachteil).

Zur Verdeutlichung hier zwei Bilder aus einem Rettertraining mit der G-Maschine aus USA


(Photo: www.wingenvy.com) Linksspirale, Retterauslösung rechts. Wegen der Schräglage des Piloten hat die Richtung der Retterauslösung zwei Komponenten; nach außen und nach oben.


(Photo: www.wingenvy.com) Rechtsspirale, Retterauslösung rechts. Hier erfolgt die Wurfrichtung nach innen/unten.

 Der „Beinwurf“
Die beiden Wissenschaftler haben eine dritte Wurfrichtung untersucht, die sie „Beinwurf“ genannt haben. Dabei schleudert der Pilot den Retter aus seiner Position gesehen senkrecht nach unten. Die theoretischen Berechnungen haben einen deutlichen Vorteil dieser Wurfrichtung, im Vergleich zu den Würfen nach innen oder außen gezeigt. Verglichen mit dem Wurf nach außen/oben, hat der Retter rechnerisch fast doppelt soviel Zeit um sich zu öffnen, bevor er von der rotierenden Gleitschirmkappe eingefangen wird. Physikalisch ist das so zu erklären: Beim Beinwurf erfolgt die Wurfrichtung zunächst einmal nach unten, wir wissen inzwischen, dass dies gut ist, weil möglichst weit weg von der Gleitschirmkappe. Wegen der Schräglage des Piloten, ist ein Wurf nach unten aber immer gleichzeitig ein Wurf nach außen.


(Photo: www.wingenvy.com) Wenn der Pilot den schwarzen Innencontainer in Richtung Beine wirft, geht die Wurfrichtung gleichzeitig nach unten und nach außen.


Hier sind die Berechnungen grafisch dargestellt. Rot bei Wurf mit Komponente nach oben. Grün der „Beinwurf“, nach unten/außen.

Die Untersuchung hat einen Lösungsvorschlag für das Problem gemacht, der nun in der Praxis untersucht werden musste.

Praxistests
Aus der Unfallanalyse ist bekannt, dass Retterfraß besonders in Situationen auftritt, bei welchen sich der Schirm in einer SAT-ähnlichen Drehung befindet. Das ist insbesondere bei Verhängerspiralen der Fall. Im Gegensatz zu einer „echten“ Steilspirale beschreiben Pilot und Gleitschirm dabei einer viel engeren Kreisradius, der entsprechend auch zeitlich kürzer ist. Der Retter hat deshalb besonders wenig Zeit sich zu öffnen, bevor ihn die Gleitschirmkappe eingeholt hat.
Es waren deshalb Versuche mit Spiralen und SAT`s angesagt. Die Zahl der Piloten, die in der Lage ist, einen SAT zu fliegen, dabei einen Retter kontrolliert nach einer definierten Seite hin auszulösen und dann noch mit einem eventuell „gefressenen“ Retter zurechtkommen kann, ist gering. Wir haben mit Michael Nesler und seinem Professional Flying Team den geeigneten Partner dafür gefunden.
Michael flog die Versuche mit drei Rettern. Einen für den echten Notfall und zwei für die Versuchsauslösungen.

Auslösung in Steilkurven
Der erste Versuch sollte Klarheit darüber schaffen, ob sich in der Praxis Unterschiede zeigen, wenn der Retter einmal nach außen und einmal nach unten geschleudert wird. Zur besseren Nachvollziehbarkeit haben wir uns auf Auslösung mit moderater Sinkgeschwindigkeit beschränkt (ca. 8 m/s).

Wurf nach außen
Video



Wurf nach außen/oben: Beginn der Auslösung durch den Piloten und tragende Öffnung des Retters gegenüber gestellt: Dauer des Vorgangs: ca. 2,8 Sekunden
Position des Rettungsschirms nach der Öffnung: fast senkrecht über dem Piloten

Wurf nach unten
Video



Wurf nach außen/unten: Beginn der Auslösung durch den Piloten und tragende Öffnung des Retters gegenüber gestellt: Dauer des Vorgangs: 2,6 Sekunden
Position des Rettungsschirms nach der Öffnung: fast waagrecht hinter dem Piloten.

Nach der tragenden Öffnung befindet sich der Retter annähernd waagrecht hinter dem Piloten. Es dauert weitere 2- 3 Sekunden, bis der Retter sich über dem Piloten stabilisiert hat.

Fazit:
Bei Auslösung in einer Spiraldrehung zeigt sich kein Vorteil des Wurfs nach unten/außen („Beinwurf“) gegenüber dem Wurf nach außen. Das war auch nicht zu erwarten. Denn anders als in der SAT-Drehung, bleibt dem Retter normalerweise ausreichend Zeit zu öffnen, da eine Umdrehung in der Spirale 3-4 Sekunden dauert, der Retter aber nach längstens 2,5 Sekunden soweit offen ist, dass er von der Gleitschirmkappe nicht mehr gefressen werden kann.
Der Wurf nach außen/oben hat in dieser Situation jedoch einen Vorteil: Nach der Öffnung steht der Retter bereits über dem Piloten und kann sofort tragen. Beim Wurf nach unten/außen öffnet der Retter hinter dem Piloten. Um in vollständig tragende Position zu kommen muss der Rettungsschirm erst von hinten über den Piloten kommen. In dieser Zeitspanne ist das Sinken sehr hoch, was bei bodennaher Auslösung ein großer Nachteil sein kann.

Auslösung im SAT (Simulation Verhängerspirale)
Im Unterschied zur Steilspirale ist der Radius einer SAT-Drehung kleiner, wegen der weiter innen liegenden Drehachse. Das verursacht einige Probleme beim Werfen des Rettungsschirms. Hauptproblem: In eine typischer SAT-Drehung legt der Gleitschirm die 360° etwa doppelt so schnell zurück (1,5-2 Sek.), wie bei einer Steilspirale (3-4 Sek.). Das gibt dem Retter sehr viel weniger Zeit zu öffnen als vergleichbar in einer Steilspirale. In der Tat ist eine Kollision Gleitschirm-Retter in einer SAT-Drehung fast vorprogrammiert, weil die Öffnungszeit des Retters zeitlich in einem ähnlichen Rahmen liegt, wie eine 360°-Drehung der Gleitschirmkappe.
Weiteres Problem: Durch den geringen Kreisdurchmesser den der Pilot beschreibt, kann es passieren, dass sich die Fangleinen der Rettung nicht strecken können. In seiner Kreisbahn bewegt sich der Pilot nur ein kurzes Stück vom ausgelösten Rettungsschirm weg und dann wieder darauf zu. Der Retter kann aber erst öffnen, wenn sich die Fangleinen ganz gestreckt haben.

Eins wurde schnell klar; in der heftigen Rotation eines SAT’s ist es praktisch nicht möglich einen kontrollierten Wurf des Retters zu bewerkstelligen. Die Orientierung ist mehr als schwierig, festzustellen wo sich Kurveninnen- und Kurvenaußenseite befinden für den Nicht-Acro-Profi nicht machbar. Zudem sind heftige Fliehkräfte am Werk. Schon das Auffinden des Rettergriffs und das Herausziehen aus dem Innencontainer kann in dieser Situation ein Kraftakt sein. Viele Piloten lassen deshalb den herausgezogenen Retter einfach fallen. Ein aktives Beschleunigen des Retterpäckchens nach unten (Beinwurf) ist jedoch machbar. Der Pilot muss sich dabei weder orientieren, noch eine bestimmte Wurfrichtung wählen. Der herausgezogene Retter wird in einer Schleuderbewegung nach unten geworfen.

Die Auslöseversuche im SAT sollten zeigen, ob es einen Unterschied im Öffnungsverhalten des Retters gibt, wenn dieser nur fallen gelassen oder aktiv vom Piloten nach untern weggeschleudert wird.

Das Ergebnis war hier sehr eindeutig. Wird der Retter in einer SAT-Spirale nach dem Herausziehen aus dem Außencontainer nur fallen gelassen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass er von der Gleitschirmkappe eingefangen wird extrem hoch. Der Streckungs- und Öffnungsvorgang des Retters ist in diesem Fall zeitlich nicht zu schaffen, bevor die Gleitschirmkappe da ist und den Retter frisst. Mit Glück (wie auch bei Michaels Versuchen) schlüpft der Retter durch ide Leinen und kann trotzdem öffnen.
Video.

Bei aktivem Beschleunigen des Innencontainers nach unten wird die Zeit verkürzt, die der Retter zum Strecken der Fangleinen und zur beginnenden Öffnung benötigt. Die Chance ist in diesem Fall viel größer, dass es der Retter „schafft“, bevor er vom Gleitschirm eingefangen wird.
Video

Zusammenfassung:
Nach derzeitigem Erkenntnisstand kann davon ausgegangen werden, dass der „Beinwurf“ bei der Auslösung des Retters in voll entwickelten Verhängerspiralen die beste Wurfrichtung ist. Die Gefahr, dass der Retter von der Gleitschirmkappe eingefangen wird ist dabei am geringsten.
Bei massiven Störungen in Bodennähe wird der Retter meist schon vor dem Einsetzen einer voll entwickelten Drehbewegung geworfen. In dieser Situation sollte der Retter nach außen (entgegen der Drehrichtung) weggeschleudert werden.

Die neuen Erkenntnisse bestätigen indes eine altbekannte Tatsache: Ein aktives Wegschleudern des Retters, egal in welche Richtung, ist nur mit einer möglichst kurzen Verbindung Rettergriff-Innencontainer machbar. Zu lange Verbindungen erlauben überhaupt keinen kontrollierten Wurf.
Neben der problemlosen Öffnung des Außencontainers ist eine kurze Verbindung Griff-Innencontainer, die ein kraftvolles Wegschleudern des Retters erlaubt, die wichtigste Voraussetzung für eine erfolgreiche Retter-Auslösung.

Retterauslösungen in voll entwickelten Drehbewegungen sind immer mit dem Risiko verbunden, dass sich der Retter in der Gleitschirmkappe verhängt.
Die beste Strategie um diese gefährliche Situation zu verhindern ist, es gar nicht bis zu einer voll entwickelten Drehbewegung kommen zu lassen. Besonders in Bodennähe ist eine sofortige Retterauslösung, noch bevor der Schirm unkontrolliert zu drehen beginnt, die einzig richtige Entscheidung.
Die beiden Videobeispiele zeigen, dass bei sofortigem und entschlossenen Handeln auch bodennahe Extremsituationen durch eine erfolgreiche Retterauslösung für den Piloten glimpflich ausgehen können.
http://www.youtube.com/watch?v=hE1df-w_S5g&feature=related
http://www.youtube.com/watch?v=r3RcvUvGcTY


Für Retterauslösungen in voll entwickelten Verhängerspiralen kann nach derzeitigem Kenntnisstand folgende Empfehlung gegeben werden:
1. Wirf den Retter nach außen/unten, in Richtung Deiner Beine
2. Wirf so kräftig wie möglich.

Dank an Michael Nesler und Gudrun Öchsl vom Professional Flying Team, Christoph Weber, den Doktoranten Andreas Pöschl und Martin Schwingenheuer und Peter Cröniger vom DHV-Lehrteam.

Karl Slezak
DHV-Ausbildung/Sicherheit